Guten Tag Ihr Lieben,
hier kommt der vierte von 50 Denkzetteln rund um meinen 50. Geburtstag. Auch zu diesem Beitrag aus der Zettelwirtschaft gilt, dass diese Gedankengänge eines meiner Lieblingsthemen nicht erschöpfend beschreibt. 😉
Gute Unterhaltung damit!
Liebe Grüße
Christiane (Paula Grimm bei Texthase online)
04. Kurze Autobiografie einer Leselöwin 😉
Heute ist der 09. Dezember 2015. Und heute ist ein sehr guter Tag, um über meine Leseerfahrung zu schreiben. Denn meine Leseheimat ist die Sechspunktschrift nach Louis Braille, die am 09. Dezember des Jahres 1879 in Paris zur internationalen Kulturtechnik der Blinden erklärt wurde. Über dieses Herkunftsland bezogen auf das Lesen schreibe ich nicht zum ersten Mal und auch nicht zum ersten Mal in diesem Blog. Heute vor drei Jahren erschien der Artikel : https://texthaseonline.com/2012/12/09/sechs-punkte-fur-sechs-punkte-09-12-1879-anerkennng-der-brailleschrift-als-blindenku-lturtechnik/. Der Beitrag enthält nicht nur Anmerkungen zu meinen persönlichen Erfahrung mit der Brailleschrift, sondern auch Informationen über die Entwicklung und Probleme unseres Schriftsystems. Außerdem gibt es in diesem Blog noch einen Post darüber, wie sich die Nutzung der Punktschrift im Zeitalter der Computer verändert und angepasst hat. Diesen Artikel findet man unter https://texthaseonline.com/2013/01/25/braillezeilen-oder-wie-punktschrift-am-computer-funktioniert/.
Wer mich etwas kennt, weiß, wie gern ich Anspielungen auf das Tierreich und auf Phantasiegestalten mag und gebrauche. Im Verlauf der Zeit wurden für Kinder und Erwachsene einige Lesekreaturen geschaffen, mit denen man Lesende vergleicht, oder mit deren Eigenschaften man sich als Leserin oder Leser vergleichen kann. Aus den mir bekannten Lesewesen suche ich mir den Leselöwen aus. Als Bücherwurm mag ich mich nicht bezeichnen, denn der frisst einfach nur so vor sich hin. Wo bleibt da das Vorlesen und das Vorlesen lassen, dass mir so viel bedeutet und Freude macht. Leseratten sind immerhin kluge und gesellige Tiere. Aber als Ratte gebe ich eine schlechte Figur ab. Ich bin zwar nicht besonders groß aber nicht quirlig und niedlich genug. Auch als Drache mache ich nichts her. Und auch der ist eher ein Einzelgänger, der in einer Höhle lebt. Und ich habe wohl auch zu viel Angst vor Feuer, um dann auch noch selbst Flammen zu speien.
Für mich kommt nur der Leselöwe als Artgenosse infrage. Und das gilt nicht nur, da ich zufällig Löwe als Aszendent habe. 😉 Ich halte die Ruhe gut aus, die man hat und braucht, wenn man still vor sich hin liest. Aber ich schätze die Gemeinschaft mit anderen Leserinnen und Lesern sehr, wenn ich vorlesen darf oder vorgelesen bekomme. Mit dem Löwen verbindet man auch die Eigenschaft der Schöpferkraft. Und die habe ich beim Lesen auch. Das gilt selbstverständlich in besonderer Weise für das Vorlesen, wobei man ja nicht nur eine sehr konkrete Vorstellung entwickeln muss, sondern auch dazu in der Lage sein muss, diese zum Ausdruck zu bringen und zwar am Besten so, dass es nicht beliebig ist, dem Zuhörer aber noch viel Interpretationsspielraum lässt. So ein Löwe ist, wie man es auch über den Löwen im Tierreich und in der Astrologie weiß, begeisterungsfähig und engagiert für das, was er tut. Nicht nur, dass ich mich seit ich lesen kann, für das Lesen und für viele Bücher begeistert habe, ich verteidige, was ich an der Tätigkeit mag und die Bücher, die ich liebe, mit Zähnen und Klauen. Und im übertragenen Sinn ist mir auch ein spezielles Revierverhalten eigen. Ich durchstreife die Literaturregionen, die mir zugänglich sind, regelmäßig und gewissenhaft. Darüber hinaus gibt es Bücher, die ich im Verlauf meines Lebens immer wieder mal lese. Karat, Moby Dick, Chronik eines angekündigten Todes, um nur einige Beispiele zu nennen. Löwen sind große Katzen, was eine sehr gesunde Portion Neugier mit sich bringt. So kommt es trotz der Liebe zu einigen speziellen Werken nicht dazu, dass mein Lesespeiseplan nicht eintönig, sondern stetig erweitert wird.
Vor dem Lesen kam das Vorlesen. Meine Patin war in meiner frühen Kindheit häufig bei uns zu Besuch und las begeistert vor. Und sie hörte auch nicht damit auf, als ich schon selbst lesen konnte. ich finde das für Kinder, Jugendliche und Erwachsene gelten sollte: „Lesen, vorlesen und vorlesen lassen fördern das Leseverständnis und die Freude am Lesen gleichermaßen.“
Seit ich denken kann, hatte ich immer wieder Schlafprobleme. Und ich kann nicht sagen, durch wie viele Nächte mir das Lesen in der Kindheit und Jugend geholfen hat. Dabei war es sehr gut für mich, dass unsere Erzieherinnen in der Blindenschule nicht so sehr auf die „absolute Nachtruhe“ geachtet haben. Denjenigen, bei denen ich war, wollten abends und nachts nur ihre eigene Ruhe haben, schlichen sich deshalb niemals an, um zu kontrollieren, ob wir auch wirklich schon schliefen. Und nicht nur, dass man die Punktschrift nicht mit der Taschenlampe unter der Bettdecke lesen muss. Das Handlesen ist doch recht leise möglich, sodass man nur darauf achten musste, bis die „Mehrschläferinnen“, mit denen man das Zimmer teilte, schliefen, um sich dann in aller Ruhe die schlaflose Zeit sinnvoll zu vertreiben oder sich eine Gute-Nachtgeschichte zu lesen.
Meine Überzeugung ist schon, dass man, obwohl man lautes vorlesen üben muss, vorlesen auch beim leise lesen übt. Schließlich schaltet man das innere Ohr dabei nicht ab. Darüber hinaus übt man immer und immer wieder verstehen. Daran ist auch die Veränderung der Lesegeschwindigkeit als gute Hilfe beteiligt.
Allerdings muss ich natürlich sagen, dass mir bezogen auf das Verstehen durch das Begreifen im wahrsten Sinne des Wortes auch immer deshalb leicht von der Hand bis ins Herz und in den Kopf gegangen ist, da ich eine für Punktschriftleserinnen und -leser recht schnelle lesegeschwindigkeit habe. Das hilft selbstverständlich ungemein dabei, die Geschwindigkeit je nach Bedarf anzupassen. Ich kann Punktschrift mit beiden oder mit jeder einzelnen Hand lesen. Lesen mache ich also auch im wahrsten Sinne des Wortes mit links und bin dabei als Rechtshänderin nur geringfügig langsamer als mit rechts. Meine schnellste Lesevariante ist das beidhändige Lesen. Aber eine lahme Leseente bin ich Gott sei Dank auch bei einhändiger Lektüre nicht.
Nachschub an Lesefutter gab es in der Schulzeit größtenteils aus der Schulbibliothek, die einmal in der es nicht nur die Literatur gab, die in den verschiedenen Klassen Lesestoff waren. Außerdem bekam ich auch viele Bücher in Heftform von meiner Patin geschenkt. Sie kaufte sie meist im Blindenschriftverlag Paderborn, da diese Bücher für Kinder und Jugendliche auch in Heftform im Sortiment hatten, was natürlich günstiger war als gebundene Bücher. Und da ich aus Liebe immer sorgsam mit meinen Heften umging, konnten diese guten Gewissens verschenkt werden, wenn ich aus ihnen „herausgewachsen“ war. Denn es gab Gott sei Dank nicht nur immer wieder dankbare jüngere Zuhörer, sondern auch Leserinnen und Leser, die sich über ein Buchgeschenk freuten.
Wer lesen konnte und mochte, konnte einmal im Jahr an einem schulinternen Lesewettbewerb teilnehmen. In dem Jahr, als ich einmal nicht die ewige Zweite war, habe ich als ersten Preis das Punktschriftbuch das Ebenholzpferd aus 1001 Nacht bekommen.
Nach der Grundschule lernten wir die deutsche Blindenkurzschrift. In den Sprachräumen, in denen die lateinischen Buchstaben als Blindenschrift verwendet werden, gibt es Kurzschriften, die der entsprechenden Sprache angepasst dafür sorgen, dass die großen Punktschriftbücher nicht noch umfänglicher werden. Das ist ein nicht ganz einfaches Regelwerk, das j aber, wenn man es beherrschen kann, auch zu einem guten Lese- und Schreibfluss führt. Ein noch recht einfaches Beispiel sei hier genannt: „dz“ bedeutet dazu. Es versteht sich, dass die größere Zahl der Bücher, die in Paderborn, Leipzig, Marburg, Hannover und Zürich gedruckten Werken aus Kosten- und Platzgründen in deutscher Blindenkurzschrift gedruckt sind. Ich selbst kann zusätzlich zur deutschen auch die englische Kurzschrift recht gut lesen und schreiben. Die Notenschrift beherrsche ich dagegen nicht.
In meine privaten Buchbestand haben längst auch Hörbücher und Ebooks in unterschiedlichen Formaten Einzug gehalten. Doch seit vielen Jahren bin ich Mitglied in der deutschen Zentralbücherei für Blinde in Leipzig, bei der man Punktschriftbücher leihen kann, die in recht praktischen Bücherkoffern via Post zu den Lesern nach Hause kommen und auf dem Postweg zurückgeschickt werden. Außerdem habe ich seit drei Jahren den Literaturtreff in Leipzig abonniert und bekomme jede Woche ein Heft im a4-Format, in dem eine neue Folge eines Fortsetzungsromans abgedruckt ist. Derzeit lese ich der grüne Blitz von Jules Verne. Obwohl ich das Hörbuchangebot, wozu für mich auch das Angebot der Blindenhörbüchereien gehört, und die Möglichkeiten Ebooks zu lesen, sehr zu schätzen weiß, genieße ich auch den Zugriff auf Punktschriftbücher und zwar nicht aus Gewohnheit oder Nostalgie, sondern um vorlesen üben zu können, und um die Fähigkeit zu fördern Texte in unterschiedlichen „selbstgemachte“ Geschwindigkeiten begreifen zu können.
Zum Lesen gehört auch das Schreiben. Über das Schreiben an sich und über das, was ich als Autorin schreibe, werden Denkzettel noch häufiger handeln. An dieser Stelle möchte ich nur eine Sache erwähnen. Ich bin eine schlechte freie Rednerin und wusste bei Referaten an der Uni nie, was ich mit meinen Händen machen soll, wo sie hingehören. Inhalte von Vorträgen aufzuschreiben, hilft mir immer gut im Gedächtnis zu behalten. Fachlich gesehen brauche ich meine Skizzenblätter im Grunde genommen nicht. Aber bei Rückfragen tatsächlich auf einen oder besser gesagt die geschriebenen Punkte im wahrsten Sinne des Wortes zurückgreifen zu können, hat mir immer ungemein geholfen, einen Vortrag zu überstehen und angemessen zu halten. Ich habe einen guten Überblick über Texte, die ich gelesen oder sogar selbst geschrieben habe, obwohl Punktschriftleser immer einen Nachteil im Vergleich zu Schwarzschriftlesern haben, quer lesen ist uns nicht möglich. Und das wird nur teilweise durch die Tatsache ausgeglichen, dass wir das, was wir lesen im Wortsinn auch erfassen. Vielleicht bin ich doch keine gute Leselöwin, denn Löwen haben in keiner Situation ein Problem damit sich zu präsentieren. Ich dagegen muss mich beim Vortragen immer festhalten, mögen die Notizen, die ich mir gemacht habe, auch noch so spärlich sein. Wenn ich nichts zu fassen und zu greifen bekomme, ist nichts mit angemessenem Vortrag. 😉